Brief 5 – Schutz(t)räume

Text als Audio anhören
Artikel als Audio hören

ich steige in dieser Woche einmal philosophisch ein: „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Martin Buber). Wir entwickeln uns als Person in der Beziehung zu anderen Menschen. Das beginnt als Kind und es hört nie auf: Dass ich gern viel rede, weiß ich nur, weil ich merke, dass andere weniger sprechen. Dass ich musikinteressiert bin, weiß ich, weil sich andere lieber über Sport austauschen. Wer das Du ist, ist dabei nicht beliebig: Wie ich mit meinem Bruder spreche, ist anders als bei der Arbeit. Mit meiner Partnerin bin ich anders als mit meiner Mutter. Alle diese Du’s haben Einfluss auf mein Ich.

Als Beziehungswesen brauche ich meine:n Partner:in als Gegenüber, um zu erleben, dass ich Ich bin. Und mein Ich braucht, auch in einer Paarbeziehung, einen Schutzraum, in dem es allein gelten darf. Wir sprechen gern und viel miteinander, wir erzählen uns Dinge, spüren miteinander, erleben, fühlen uns ein … Und zugleich gibt es eine Grenze, eine Tür, die nur von innen eine Klinke hat. Dahinter ist mein persönlicher Schutzraum, zu dem niemand außer mir Zutritt hat – nicht mal Du!

Wie ist euer Schutzraum gestaltet?

Eine wichtige Frage: Wie bekommt dieser Schutzraum seinen Raum? Eine gute Freundin leidet an starken Depressionen. Das ist auch für ihren Partner nicht leicht. Mehrfach im Jahr fährt er ein paar Tage allein mit dem Rad weg: Hunderte Kilometer ans Meer, ohne sie. Lässt er sie also im Stich? Ich würde sagen: Nein, er pflegt einen für ihn unverzichtbaren Schutzraum, der ihm dabei hilft, gesund zu bleiben.

Schutzräume brauchen nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Paare. Für viele ist das zunächst ganz konkret das eigene Schlafzimmer. Und im übertragenen Sinne? Wo dürfen euch nicht mal engste Vertraute reinreden oder in die Karten schauen? In welchen Situationen merkt ihr, vielleicht schon an einem Blick: „Das ist unsere Sache!“? Das kann auch ein Gefühl oder ein Verhalten sein. In meiner Partnerschaft schätze ich zum Beispiel besonders, dass wir auch mal gemeinsam schwach sein dürfen und nicht eine:r immer der Fels in der Brandung sein muss – was für ein Schutzraum.

Auch Gruppen, wie Freundeskreise oder die eigene Herkunftsfamilie, sind Schutzräume. Einmal im Jahr fahre ich auf ein sogenanntes Mutter-Söhne-Wochenende. Nur meine Mutter, mein Bruder und ich. Mein Vater ist früh gestorben, meine Mutter ist in neuer Beziehung, mein Bruder und ich sind verheiratet. Wir teilen viel Zeit mit allen untereinander, und das ist wunderbar. Einmal im Jahr gönnen wir uns diesen Schutzraum zu dritt. Wir schreiben unsere Geschichte weiter, lachen über Insiderwitze, erinnern uns, entdecken Neues … es ist großartig!

Ja, Martin Buber, ich werde am Du zum Ich.

Gleichzeitig hat das Du keinen Generalschlüssel zum Ich – zum Glück.

Es gibt übrigens einen etwas neueren Begriff, der sich fast wie eine Übersetzung anhört: die Safe(r) Spaces. Das sind Räume, in denen Menschen sich sicher fühlen und frei von Vorurteilen ihre Meinungen und Erfahrungen teilen können. Die tun allen gut – besonders Menschen mit Diskriminierungserfahrungen. Als Paar können wir uns dafür entscheiden und etwas dafür tun, dass sich bei uns alle Menschen wohlfühlen sollen – egal wie sie sind.

David Hunold

Ein Hör-Tipp für Euch:


Das Lied nutzt die Rückfahrt nach einer langen Feiernacht als Metapher, die breit interpretiert werden kann.
Eine Idee: Hört, nicht nur, aber vor allem, den Refraintext mit diesem Gedanken: Den Weg in den eigenen Schutzraum zu finden ist nicht immer leicht. Schön, wenn einen dann jemand dort hinbringt.

„Bring‘ mich nach Hause | Ich kann nichts mehr sehen und brauch 'ne Pause | Und ich schaff‘ es nicht allein“

  • Nehmt ein Blatt Papier und zeichnet zwei Kreise, die sich leicht überschneiden: Das sind eure SchutzRäume. In ihnen ist auch Platz für SchutzTräume. Was gehört da für euch rein? Füllt es so, wie ihr es mögt!

GOTT, WAS HABE ICH MICH GETRAGEN GEFÜHLT
UND DEINE NÄHE HABE ICH GESPÜRT –
– ICH, GANZ BEI MIR –
UND ALLES HAT SO FREI UND BUNT GELEUCHTET –
– ICH, GANZ BEI MIR –
UND DER RAUM HAT SO TRÄUMERISCH GEFUNKELT –
– ICH, GANZ BEI MIR –
UND DANN WIEDER BEI DIR!

Amen.

(David Hunold)

Tipps:

  • Habt ihr Lust auf eine spirituelle Vertiefung zum Thema des Briefes? Die bekommt ihr hier!
  • Erst später zur Aktion dazu gestoßen? Hier sind die bisherigen Briefe: Brief 1 | Brief 2 | Brief 3 | Brief 4 |
  • Ihr könnt euch hier auch während der laufenden Aktion noch anmelden und die Briefe per SMS oder Mail zugeschickt bekommen.

Bildquelle: Mann in Höhle: © M. Venter via pexels. | Alte oder junge Frau oder alter oder junger Mann? © Martin Mißfeldt